Bei dem Begriff „Reichsparteitagsgelände“ denken die meisten wohl an die Kongresshalle oder das Zeppelinfeld – eben Schauplätze der Reichsparteitage während der NS-Zeit. Nur wenige wissen, dass sich das Gelände ursprünglich bis in den heutigen Stadtteil Langwasser erstreckte. Die Geschichte des Geländes hört mit dem Beginn des Kriegs auch noch nicht auf. Auch von 1939 bis 1945 wurde das Gelände genutzt, etwa als Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager. Dieser Teil der Geschichte wird heute oft vergessen. Das liegt auch daran, dass es heute kaum noch sichtbare Überreste aus dieser Zeit gibt. Einzig der Bahnhof Märzfeld hat die Zeit überdauert. Er wurde während des Kriegs als Deportationsbahnhof genutzt. Sein Zustand ist heute desolat. Betreten kann man die Bahnsteige nicht. Die Aufgänge sind zugemauert und vergittert. Die Bahnhofsunterführung wird durch einen Gitterzaun in links und rechts getrennt, der zusätzlich die Decke stützt. Wer nicht weiß, dass die dunkle Unterführung nach Langwasser einst ein Bahnhof war, der merkt es auch nicht. Einzig zwei Infotafeln am Wegrand machen auf die Historie des Ortes aufmerksam. Ein Zustand, der vielen übel aufstößt.
Leonard Stöcklein etwa. Er ist Historiker an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, beschäftigt sich mit dem Bahnhof und bietet Führungen dazu an – auch im Rahmen der International Public Summer School. Für ihn steht die Bedeutung des Bahnhofs fest. Nicht nur Deportationen von Menschen jüdischen Glaubens fanden hier statt, es sind auch tausende Zwangsarbeitende und Kriegsgefangene hier angekommen: „Viele Angehörige der Opfer besuchen Nürnberg und suchen natürlich nach Orten, die mit ihrer eigenen Familiengeschichte verbunden sind. Sie kommen dann tatsächlich auch an diesen Bahnhof.“ Statt eines Geisterbahnhofs würde er diesen Leuten lieber einen Ort präsentieren, an dem ein würdiges Gedenken möglich ist: „Ein Ort, an dem sie verweilen können und an dem es mehr Informationen gibt.“
Auch die Lage des Bahnhofs macht ihn, laut Leonard Stöcklein, zu einem wichtigen Ort: „Er ist mitten in Langwasser. Da laufen täglich hunderte Passanten entlang. Wäre der Bahnhof würdiger gestaltet, würden die Leute dort vielleicht auch kurz innehalten und sich das zu Gemüte führen.“ Damit würde man auch Leute ansprechen, die sich sonst nicht so viel mit der Historie des Ortes beschäftigen.
Informationen über den Bahnhof gibt es bisher an zwei Tafeln, die zur WM 2006 hier, wie auch auf dem restlichen Reichsparteitagsgelände, aufgestellt wurden. Dass die beidseitig bedruckt sind, ist kaum wahrzunehmen, weil auf der Rückseite ein Zaun steht. Über die Gründe dieses Umgangs mit dem Gelände kann auch der Historiker Stöcklein nur spekulieren: „Mein Eindruck ist, dass der politische Wille fehlt. Außerdem ist das Gelände so riesig. Wie integriert man das südliche Areal und den Bahnhof in das nördliche Areal?“ Auch wer genau zuständig ist, ist nicht ganz klar. Die Bahn nutzt den Bahnhof weiterhin für den Güterverkehr. Die Stadt Nürnberg ist verpflichtet dafür zu sorgen, dass der Bahnhof nicht einstürzt, kommt dieser Pflicht immerhin mehr oder weniger nach. Zudem lag das Augenmerk der Erinnerung bisher auf dem heute bekannteren Teil der Geschichte des Reichsparteitagsgeländes. „Die Geschichte des Geländes während des Zweiten Weltkriegs wurde nicht bewusst ausgeblendet, aber in gewisser Weise links liegen gelassen“, vermutet Stöcklein.
Eine Vermutung, die Nina Lutz vom Dokumentationszentrum Nürnberg bestätigt: „Das ganze Thema des Reichsparteitagsgeländes im Krieg wurde in der Dauerausstellung nicht groß thematisiert. Das hatte diverse Gründe und das gilt es jetzt nachzuholen. Da werden wir einen großen, wichtigen Puzzlestein ergänzen.“ Der Bahnhof Märzfeld soll dabei auch eine Rolle spielen. Auch Lutz ist von dem aktuellen Umgang mit dem Bahnhofsareal enttäuscht, sagt aber auch, dass es keinen Stillstand gibt und immer wieder Gespräche stattfinden: „Ich denke, es herrscht Konsens über alle gesellschaftliche, politische und städtische Stellen hinweg, dass da was passieren muss.“
Für die Neugestaltung des Bahnhofsareals gibt es schon Vorschläge, zum Beispiel von der Landschaftsarchitekturstudentin Charlotte Soppa aus Hannover. Die hat in ihrer Bachelorarbeit ein Konzept für den Bahnhof Märzfeld ausgearbeitet. Auch Nina Lutz hat Ideen für das Areal: „Ich wünsche mir einen Ort, den die Stadtgesellschaft gerne aufsucht, weil es ein angenehmer Ort ist. Vor allem auch ein Ort für die Angehörigen.“ Außerdem könne sie sich gut vorstellen, den Ort immer um neue Namen von Menschen zu erweitern, die über den Bahnhof geschleust wurden: „Also ein Ort der wächst, der sich immer weiter gestaltet.“ Historiker Leonard Stöcklein geht es zunächst darum, dass überhaupt etwas passiert: „Inwiefern man das ausgestaltet, wie viel Geld man investieren will, ob man Charlotte Soppa folgen will, das sind Detailfragen. Es geht darum, einfach mal anzuerkennen, dass man den Bahnhof mit einbinden sollte.“
Und er wird mit seiner Forderung gehört. Dass sich etwas tut, rund um den Bahnhof Märzfeld, liegt laut Nina Lutz auch am Engagement des Historikers Stöcklein: „Er war nie ganz vergessen, aber dass der Bahnhof wieder mehr in die Öffentlichkeit getragen wird, ist auch verschiedenen Initiativen wie Herrn Stöcklein oder auch der Summer School zu verdanken. Es ist immer wichtig, dass nicht nur wir als Institution mahnen, sondern dass das auch aus der Stadtgesellschaft kommt. Das unterstützt unser Anliegen komplett.“
Zumindest hierin scheinen sich alle beteiligten Parteien inzwischen einig zu sein: Der jetzige Zustand kann nicht bleiben, der Bahnhof muss hergerichtet werden. Wie lange er noch provisorisch zusammengeflickt und vor der Öffentlichkeit verschlossen bleibt steht allerdings weiterhin in den Sternen. Durch die Aufarbeitung des Reichsparteitagsgeländes im Zweiten Weltkrieg scheint es, als würde sich endlich etwas tun. Für einen Ort mit dieser historischen Bedeutung bleibt zu hoffen, dass aus der Bahnhofsruine bald ein würdiger Gedenkort wird.
am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg | Impressum & Datenschutz
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