Als Mädchen und drittes von vier Kindern einer Handwerksfamilie war für Barbara Kreis eine akademische Laufbahn eher weniger vorgesehen. Ihr Wunsch, Architektin zu werden gelang über den „Umweg“ eines Besuchs der Ingenieurschule Ende der 1960er-Jahre. Ab 1989 lehrte die Stadtplanerin in Professur „Architekturgeschichte mit Entwerfen" an der GSO-Fachhochschule Nürnberg. „Information, Reflexion, Dokumentation - Umgang mit dem Reichsparteitagsgelände“ lautete ihre Diplomaufgabe, die sie den FH-Studierenden 1997 stellte. Innerhalb des Seminars sollte ein neuartiger Umgang mit den wichtigsten gebauten Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus ausgearbeitet und diskutiert werden. Die Auseinandersetzung mit dem „Markenzeichen“ deutscher Gewaltherrschaft sah keinesfalls architektonische bzw. bauliche Lösungen der Nazi-Bauten vor, sondern die Chance visueller Vergegenwärtigung des Gewesenen unserer Vergangenheit als Boden der Reflexion. „Als reale Spuren des Gewesenen führen sie zur Erkenntnis über ein Stück unserer Geschichte. Neue ‚Architektur‘ oder gestalterische Eingriffe können als ‚Bote‘ dienen, um aufzuklären“, schreibt Dr. Kreis in ihrer Präsentation der Seminararbeit. Zehn Jahre nach ihrer Pensionierung erinnert sich die Baukünstlerin an die ausgearbeiteten Untersuchungen und Betrachtungen ihrer Studierenden zurück und nimmt Stellung zur aktuellen Debatte zum Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände.
Angesichts der vielen derzeitigen Diskussionen und Berichterstattungen fühle ich mich an die Worte erinnert: „Es ist schon alles gesagt, aber noch nicht von Jedem“ (Karl Valentin) – Um so schwieriger erscheint es mir etwas beizutragen, zumal die von mir gestellte Diplomarbeit schon 25 Jahre zurückliegt.
Die Konfrontation mit der NS-Vergangenheit bewegte mich schon lange davor – jede deutsche Familie war ja davon betroffen. Mit ca. 16 Jahren fiel mir zu Hause das Buch „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon, der das KZ Buchenwald überlebt hatte, in die Hände – beim Lesen wurde mir ohnmächtig. Auch eine Mieterin, die kurze Zeit bei uns wohnte, war im Lager Bergen Belsen interniert, und ließ manchmal etwas durchblicken von dem dortigen Grauen. Während eines Forschungsaufenthaltes in den USA lernte ich die Tochter eines ehemaligen Nachbarn meines Vaters, der aus dem KZ-Dachau fliehen konnte und nach Amerika emigrierte, kennen. Sie besuchte mich später in Nürnberg. Es beschämte mich, dass sie sich bei mir bedankte, nachdem ich sie in die Gedenkstätte Dachau begleitet hatte – wie tief mussten Schmerz und Angst sich nach so vielen Jahren noch auf die Kinder übertragen haben. Eine ähnliche Erfahrung machte ich mit Besucher*innen aus den USA. Sie hatten durch mich von der „Friedensinitiative Architekten und Planer“, die wir in München aufgrund des zunehmenden Wettrüstens im Kalten Krieg Anfang der 80er Jahre gegründet hatten, erfahren. Erst durch das Wissen um diese Aufbruchsstimmung hätten sie sich getraut unser Land zu besuchen, teilten sie mir mit.
Insofern war es für mich selbstverständlich als neu berufende Professorin für „Architekturgeschichte und Entwerfen“ an den Stadtführungen des pädagogischen Instituts über das Reichsparteitagsgelände teilzunehmen, um die Zeugen des Größenwahns vor Ort auf mich wirken zu lassen und in den Vorlesungen zu thematisieren.
Als ich 1997 beabsichtigte eine Diplomarbeit über das Thema „Information, Reflexion, Dokumentation“- Umgang mit dem Reichsparteitagsgelände zu stellen, wurde seitens des Kollegiums jedoch Skepsis geäußert, dies überträfe den Rahmen einer studentischen Arbeit. Man sollte sie Künstlern wie Beuys überlassen. Zur Bearbeitung konnten sich angesichts der Einschüchterung nur drei Studierende entschließen. Jedoch entstand in dem fachübergreifenden Wahlpflichtfach eine vielschichtige Auseinandersetzung, zu der auch Kommilitonen, die das Thema schon behandelt hatten, und eingeladene Spezialisten beitrugen. Auch hier stand als erstes eine Begehung des Geländes auf dem Programm, denn „An diesem Ort kann man wie an keinen anderen in der ganzen Bundesrepublik den Geist, die Ideologie – auch den Ungeist natürlich – des Nationalsozialismus kennenlernen“ (W. Nerdinger).
Wie das Hören eines Musikstückes nicht durch das Lesen der Notenblätter erlebt werden kann, so war diese emotionale Begegnung und „Wahrnehmung“ Voraussetzung für die kognitive Erfassung und Analyse, rational zu erfassender, Merkmale. Beide Ebenen ergänzen sich in der Erinnerungskultur, in der sich der Zeitgeist widerspiegelt. Dieser wiederum, und das ist anhand der Auseinandersetzung mit dem RPG seit dem Kriegsende deutlich zu verfolgen, hat sich, beginnend mit der Tabuisierung, mehrfach gewandelt. Gespräche der Studierenden mit Zeitzeugen ihres persönlichen Umfeldes waren Teil des Seminars, ebenso wie die Filme „Triumph des Willens“, „Die Schwarze Sonne“, Texte „Aber die Autobahnen…“, „Schauder und Idylle“ (Gudrun Brockhaus) und Vorträge von Experten. Darüber hinaus entstanden zeichnerisch skizzenhafte Darstellungen zum Begriff Faschismus und Gegendarstellungen zu diesem.
Das Ziel war nun, das Gelände als Ort der Aufklärung eigenständig sichtbar und wahrnehmbar zu nutzen und die Dokumentation nicht in der Kongresshalle unterzubringen.
Die 3 Herangehensweisen der Student*innen:
1. In Fortsetzung der historischen Achse der 20er-Jahre führt ein Weg quer über und durch die Kongresshalle, um so durch das Besteigen entlang der Fassade und Durchschreiten des Gebäudes den menschlichen Maßstab zu spüren und auch hinter die Fassade schauen zu können. Oben auf dem Dach sind Faszination bzw. Ernüchterung beim Blick über das Gelände zu erfahren. Der Steg ist eingebunden in eine bewusst leichte und bewegt gehaltene Röhre, um den Kontrast herzustellen. Der Weg durchsticht das Hufeisen der Kongresshalle wie ein Pfeil und führt quer über den Innenhof. Das Dokumentationszentrum ist vorgelagert.
2. Auch hier wird die Achse der-20er Jahre fortgesetzt und ein Geschichtsweg angegliedert, der die Kongresshalle durchstößt. Er ist mit neutral würfelförmig gestalteten zur Aufklärung dienenden Informationsstationen ausgestattet und begrenzt mit Bäumen, die zur Reflexion und zum „Innehalten“ gedacht sind. Um Abstand zu den Bauten des Größenwahns zu beweisen, zieht sich das Dokumentationszentrum unter die Erde zurück. Überdacht mit großem Glasdach und Oberlichtern, soll sowohl Einblick als auch beim Begehen Irritation und Unsicherheit vermittelt werden. Als Hinweis auf die Straße der Menschenrechte sollten auf der „Großen Straße“ eine Reihe von Säulen aufgestellt werden.
3. Der 3. Entwurf sah ein System von Info-Würfeln und -tafeln vor. An wichtigen öffentlichen Zugängen und Haltestellen sollten die Säulen, von Künstlern unterschiedlich gestaltet, knappe Informationen bieten. Die Würfel stellten das Grundgerüst dar, die unterschiedliche Themen behandeln und ausstellen und zugleich zur Reflexion anregen sollten. Das Dokumentationszentrum war in einem großen Glaswürfel vorgesehen.
Zu einem späteren Zeitpunkt sah ich mich nochmals herausgefordert einen Vorschlag hinsichtlich temporärer Nutzung des RPG einzubringen.
Nachdem das erste „Friedensmahl“ zum Gedenken an den Friedensprozess nach dem 30-jährigen Krieg mit Erfolg im Zentrum abgehalten wurde, und künftig im Rahmen der Verleihung des „Menschenrechtspreis“ wiederholt werden sollte, hatte ich die Idee an der „Großen Straße“ eine „Große Friedens- und Begegnungstafel“ zu errichten, um den Ort der Gewaltherrschaft symbolisch zu einem Ort der Begegnung und neuer Visionen werden zu lassen. Eine multikulturelle Aktion zwischen Vergangenheit und Zukunft war die Idee. Es sollten Vertreter aller Nationen, die in Nürnberg eine neue Heimat gefunden haben, zu einem gemeinsamen Mahl eingeladen werden. Neben Nürnberger Hausmannskost sollten Gerichte aus aller Herkunftsländer serviert, und parallel zum „Bunten Mahl“ in einer Ausstellung: „Ohne Einwanderung keine Zukunft – Eine Erfolgsgeschichte zwischen Hoffnung und Enttäuschung“– die verschiedenen Facetten und Blickwinkel der Einwanderungsgesellschaft mit Focus auf Nürnberg gezeigt werden. Auch Dürer war ja ein Einwandererkind – „Albrecht du Migrationshintergrund!?“ Gruppen, Verbände, Organisationen treffen sich nicht nur zu theoretischen Auseinandersetzungen, sondern zum "zusammensitzen" feiern, essen, tanzen. Dies als Ausdruck der Gegenwart, die durch „Augen- und Ohrenschmaus“ sozusagen „sinnvoll“ zukünftigen Zielen ihre Kraft verleiht. Die Idee stieß seitens der Stadt auf kein Interesse. Als ich dann einige Zeit später von der Errichtung einer „Friedens-Tafel auf der Straße der Menschenrechte hörte, dachte ich, „…na ja, vielleicht hatte mein Vorschlag doch eine gewisse Nebenwirkung.“
Wie sehr die Vergangenheit und ihre blinden Flecke noch in der Stadtgesellschaft schwelten, erlebten wir wenig später mit dem Netzwerk der Terrorgruppe des NSU. In Nürnberg wurden drei der zehn Opfer ermordet. Als „Döner-Morde“ diskriminiert wurden die Migranten zunächst selbst verdächtigt. Allein 50 Nürnberger Adressen geben Hinweis auf die Bedeutung der Stadt für diese Szene. Es ist an der Zeit auch hierfür ein Zeichen zu setzen. Dies wird inzwischen auch angestrebt.
Als nun das Thema im Rahmen der Interimsnutzung für das Opernhaus wieder zur Diskussion stand, tauchten auch bei mir all diese Erinnerungen wieder auf.
Inzwischen sind es ca. 300.000 Besucher*innen, die jährlich diesen Ort des Schreckens aufsuchen. Das 2001 fertiggestellte Dokuzentrum, welches sich von außen wie ein Stachel in das Hufeisen „hineinbohrt“ trägt dazu bei. Auf der Großen Straße tobt nach wie vor das städtische Freizeitleben. Seien es die Rockkonzerte, insbesondere Bob Dylans Auftritt 1978 prägte bei den Älteren die Erinnerung, ebenso die schwarz-rot-golden jubelnde Menschenmasse beim Public-Viewing der WM 2006, beim Norisring Rennen treffen sich die Raserfans zum „Flanieren“, wie sie es nennen, Jugendliche schwingen an der Tribünenrückseite ihre Tennisschläger, und natürlich die jährlichen Volksfeste gehören zum üblichen Programm.
Das Innere des Hufeisens, ein Areal von der Größe zweier Fußballfelder, blieb mehr oder weniger „sich selbst überlassen“ als Park- Abstellplatz, zeitweises Übungsareal, Reservefläche – oder, wie 2018, als Raum für eine spontane Friedensaktion.
„…Wenn aber die Bewegung jemals schweigen sollte, dann wird noch nach Jahrtausenden dieser Zeuge hier reden…“, und „…Nichts ist mehr geeignet, den kleinen Nörgler zum Schweigen zu bringen, als die ewige Sprache der großen Kunst.“ (Hitler Reichsparteitag 1935) Wäre es nicht eine vertane Chance diesen gigantischen „Rahmen“, der seiner ehemaligen Bestimmung nicht gerecht wurde, neu zu definieren? Bietet dies nicht eine Herausforderung, dem „kleinen Nörgler“ abgeschirmt vom brodelnden tosenden Alltagsleben, nun im Inneren eine Bühne für innovative temporäre Projekte einen Raum zu bieten oder singen und tanzen zu lassen?
Warum nicht den Platz, ausgestattet mit Informationstafeln und Audiostationen, abgegrenzten Ruhebereichen und dgl. in seiner öden Kahlheit belassen, sodass die Besucher*innen aus aller Welt in Konfrontation mit den Ruinen des Größenwahns zum Nachdenken angeregt werden, damit Besinnung, Reflexion zu ermöglichen. Gerade weil der Rest des Areals schon in Beschlag genommen wurde von anderen Nutzungen. Insbesondere für die jungen Generationen, die zunehmend Zeit in der virtuellen Welt verbringen, ist eine anschauliche Begegnung mit der haptischen sinnesanregenden realen Welt von zunehmender Bedeutung. Zugleich bietet es für temporäre Kunstaktionen der freien Kunstszene – mit pädagogischer Begleitung – einen weites Aktionsfeld.
Die große Fläche müsste in diesem Sinne aufbereitet, teils versiegelt und begrünt werden. Die noch vorhandenen Schutthaufen können bleiben, denn sie sind Ausdruck des Zusammenbruchs des Größenwahns.
Wenn nun im Rahmen der Sanierung des Opernhauses der Platz für ein Ausweichquartier gesucht wird und diese Freifläche als günstig in Erwägung gezogen wurde, scheint das recht merkwürdig, zumal man seitens des Kulturreferates dies offenbar als gute Lösung betrachtet, mit der Begründung „Steine sprechen nicht für sich alleine – sie müssen interpretiert werden“ wie in einem veröffentlichten Bericht des BRs verlautet, dann stimmt einen das etwas nachdenklich. Hier geht es um Ablesbarkeit der Dimensionen, denn das menschliche Gedächtnis und Erinnerung ist topologisch geprägt. Der Eindruck sinnhafter Konfrontation kann nicht ersetzt, sondern nur ergänzt werden durch verbale, schriftliche Informationen. Wie sagte schon Sokrates „Sag mir, der du so empfänglich bist für die Wirkung der Architektur, hast du nicht beobachtet, wenn du dich in der Stadt ergingst, dass unter den Bauwerken … einige stumm sind, andere reden, und noch andere schließlich, und das sind die seltensten, singen sogar?“ Von singen kann hier natürlich nicht die Rede sein. Wie viel wurde und wird über die Wirkung der Architektur, Architekturpsychologie, Stadtsoziologie, gesprochen, und jetzt lässt man ein Opernhaus, in welchem die Besucher*innen sich entspannen und erbauen wollen, einrahmen von den immer noch wirkmächtigen Ruinen maßloser Tyrannei, um sich nach dem Genuss der „Zauberflöte“ bei einem Glas Prosecco an ihrem Anblick zu ergötzen. Diese gleichermaßen wie die internationalen Besucher*innen der Kongresshalle werden sich womöglich wundern, warum ausgerechnet zwischen den Nazisteinen die Hochkultur ihren Platz gefunden hat?
Und dann ist da noch das nicht unwesentliche Thema der Kosten – hier drängt sich der Preisvergleich mit der Zwischenlösung der „Isarphilharmonie“ in München für 1900 Personen auf, die auf dem Gelände der Stadtwerke in weniger als zwei Jahren für 43 Millionen Euro errichtet und für ihre Akustik hochgelobt wurde. Für das Nürnberger Interim mit 1500 Plätzen liegt die Kostenschätzung bei 130 Millionen Euro. Wie sieht es mit den geplanten Rückbaukosten aus?
Und zum guten Schluss erhält „der kleine Nörgler“ nach neuester Meldung auch noch andere Fürsprecher seines Anliegens, nämlich den Wanderfalken und die Uhus, die sich auf dem Gelände gemütlich gemacht haben. Wie verlautet lassen sich die geschützten Vogel- und Fledermausarten nicht einfach so vertreiben (SZ 18.1. und NN 19.1.). Wenn das kein schlagendes Argument des „Arten- und Naturschutzes“ gegenüber der praktizierten „Hinterzimmerpolitik“ ist!?
am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg | Impressum & Datenschutz
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