Es ist kurz nach halb elf und schon relativ herbstlich, als Organisatorin der Lesung, Simone Berthold, die Zuschauer begrüßt. Pedro Kadivar sitzt auf einem Stuhl vor knapp dreißig Menschen. In der Hand hält er sein „kleines Buch der Migrationen“. Aus zwei Kapiteln liest der Schriftsteller und Theaterregisseur vor, „Muttersprache“ und „Schlachtensee“.
Woher kommt unsere Muttersprache? Wie hängt sie mit unserem Heimatgefühl zusammen? Können wir unsere Muttersprache ändern? Eines scheint klar zu sein: Die Muttersprache ist keine bewusste Entscheidung. Man kann sie nicht beeinflussen. Im Kapitel „Muttersprache“ aus seinem „kleinen Buch der Migrationen“ beschäftigt sich Pedro Kadivar mit sämtlichen Fragen, rund um den Titel des Kapitels. „Man lebt immer an zwei Orten“, schreibt Kadivar, „an dem, wo man wohnt und an einem, der einen seelisch berührt, von dem aus man die Dinge wahrnimmt. Nämlich, in der Sprache.“ Der Autor kommt 1983 aus dem Iran nach Frankreich, macht damit zum ersten Mal bewusst Erfahrungen mit Migration. Es ist auch der Beginn einer Entwicklung, die schließlich 1989 zum „Bruch“ mit seiner Heimatsprache Persisch führt: „Immer weniger war sie meine erste Sprache, diejenige, in der ich fühlte und dachte.“
Später zieht Pedro Kadivar nach Berlin, dem zentralen Ort seines Kapitels „Schlachtensee“. Er schreibt über die emotionale Aufladung von Orten und liefert als Beispiel den Schlachtensee in Berlin. Hier ist der Autor oft spazieren gegangen und hat über die lange Geschichte des Sees gegrübelt. Wer ist hier wohl schon alles vor Kadivar spazieren gegangen? Vielleicht der irische Schriftsteller Samuel Beckett, der sich eine Zeitlang in Berlin aufhielt? In seinem Reisetagebuch habe Beckett, laut Kadivar, nicht über den Schlachtensee geschrieben. „Aber man weiß ja nie. Vielleicht hat er es vorgezogen, die Gegend zu beschweigen und sie gerade dadurch im Gedächtnis zu bewahren, als den einzigen in Berlin besuchten Ort, von dem sich im Tagebuch nicht die geringste Spur findet“, liest der Autor weiter.
In seinem Buch gehe es darum die verschiedenen Ebenen des Begriffs Migration aufzuzeigen und von der engen Definition der geografischen Migration wegzukommen, erklärt Pedro Kadivar in der anschließenden Fragerunde. Doch auch er selbst hatte teilweise Probleme diese Ebenen zu erkennen. Als Kadivar die französische Staatsbürgerschaft bekam und fest integriert war, er also eigentlich alles erreicht hatte, worauf er hingearbeitet hatte, fühlte er sich wie in einer Falle. „Ich hatte den Eindruck, plötzlich eine Heimat zu haben und integriert zu sein. So integriert, dass ich kein Migrant mehr war – und vielleicht auch schon tot. Ich verband damals diese Stabilität, diese Art Verankerung und wieder in einem Land verwurzelt zu sein, als etwas, das auch gefährlich sein konnte, weil es mich davon hindern konnte, mich zu bewegen“, erklärt der Schriftsteller seine damalige Gefühlslage. Heute denke er jedoch anders. Auch ohne geografische Migration gelinge es ihm heute, innerlich beweglich zu bleiben. Die „Luftwurzel“ als Metapher könnte passender nicht sein.
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